AU_2016

Kollektive Erpressung durch den „gelben Schein“ 

7. Oktober 2016

seit gestern berichten die Medien vom kollektiven Streik der TUI-Mitarbeiter durch Krankmeldung. Spiegel online spricht in diesem Fall von einem „schlauen Streikmittel“.
Erstaunt nehme ich zur Kenntnis, dass sämtliche Medien in diesen und ähnlichen Worten darüber berichten, egal ob Funk oder Fernsehen und niemand scheint sich daran zu stören, außer den betroffenen Urlaubern bzw. Fluggästen, die sich aber auch nicht zu der Streikform äußern, sondern lediglich ihren Unmut über den verlorenen Ferientag kundtun. Es muss doch fraglich stimmen, dass sämtliche Mitarbeiter einer großen Firma zeitgleich krank werden. Wenn so etwas vorkommt nennt man das Epidemie. Wo bleibt die Panik vor der Seuche? Wo bleiben die Fragen nach den Ursachen? Die Erklärung ist so einfach wie logisch: jeder, der diese Nachricht hört, weiß, dass es sich um eine „getürkte“ Krankmeldung handelt. Sich „krank“ schreiben zu lassen, auch wenn man es de facto nicht ist, ist inzwischen Volkssport geworden. Möchte man am Montag ausschlafen, weil man am Wochenende gefeiert hat, ärgert man sich über Kollegen oder den Chef oder hat man einfach keine Lust zu arbeiten: der gelbe Schein wird’s schon richten. Und wie kommt man da dran? Ganz einfach, man geht zu einem Arzt/einer Ärztin seiner Wahl und meist bekommt man ihn schon ohne selbst fragen zu müssen, denn das Angebot lautet: „soll ich Sie eine/zwei/drei Wochen krank schreiben?“ Ja, Sie haben richtig gelesen: Wochen! Böse Zungen behaupten, dass es Kolleginnen und Kollegen gäbe, die sogar ausschließlich davon leben. Manche haben auch einfach nur resigniert nach dem Motto „wenn ich sie nicht krank schreibe, macht’s der Kollege“.
Gemäß dem Statistischem Bundesamt waren 2015 Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen in Deutschland durchschnittlich 10 Arbeitstage krank gemeldet. Diese Zahl umfasst aber nur Meldungen ab dem 3. Tag, d.h. die Zahl liegt deutlich höher. Am seltensten krank sind Selbstständige. Das sagen nicht nur die Statistiken, sondern das kann man auch im Freundes- und Bekanntenkreis und unter den eigenen Patienten und Patientinnen beobachten. Das liegt aber nicht daran, dass Selbstständige grundsätzlich wohlhabender sind und Reiche weniger krank, wie uns das Politiker gerne glauben lassen wollen, sondern es liegt ganz einfach daran, dass krank sein für Selbstständige direkte Konsequenzen hat, nämlich „no work, no money“. Erwachsene erzieht man eben nur mit Geld. Zahlt ein anderer, fällt die Entscheidung meist leichter. „You get what you pay for“ sagen die Amerikaner.

Die Lohnfortzahlung im Krankheitsfalle begann laut Wikipedia in Deutschland vermutlich im 12. und 13. Jahrhundert[1] und deren Nutzen für die Bevölkerung möchte ich an dieser Stelle weder infrage stellen noch diskutieren. Fakt ist jedoch, dass sie nach wie vor die mit weitem Abstand teuerste ausschließlich vom Arbeitgeber finanzierte Sozialleistung ist.[2]

Egal welche Quellen man befragt, die Kosten belaufen sich auf einen zweistelligen mittleren Milliardenbetrag. Hinzu kommen noch die hierauf fälligen Arbeitgeberbeiträge zur Sozialversicherung, aus denen weiter knappe 10 Milliarden Euro resultieren. Daneben finanzieren die Betriebe die Krankengeldzahlungen der Krankenkassen ebenfalls anteilig mit. In der Summe ergeben sich daraus für die Betriebe Kosten durch krankheitsbedingte Fehlzeiten von ca. 57,9 Mrd. Euro pro Jahr.[2]

Die KVB schätzt sogar den Ausfall an Bruttowertschöpfung (Verlust an Arbeitsproduktivität) auf 103 Milliarden Euro im Jahr.[3] Die Beamten sind übrigens in den o.g. Berechnungen noch gar nicht enthalten und schlagen noch mit weit höheren Kosten zu Buche.[4]

Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen sind inzwischen ein gängiges Instrument zur Arbeitgebererpressung geworden. Fast jeder Kündigung folgt, egal ob der Arbeitnehmer selbst gekündigt hat oder gekündigt wurde, die direkte Krankmeldung. Die Arbeitgeber aller Branchen können ein Lied davon singen. Wo aber bleibt der Aufschrei der Bevölkerung? Es handelt sich hier um einen offensichtlichen Sozialversicherungsbetrug im großen Ausmaß, der aber als solcher weder von den Medien noch der Öffentlichkeit benannt, geschweige denn kritisiert wird. Man solidarisiert sich mit den krank Geschriebenen und gut ist. Möge der Staat oder „die da oben“ das große Füllhorn weiter über uns gießen!
Als ich in dieser Woche im Berufsschulunterricht eine Klasse mit gerade ihre Ausbildung zur Medizinischen Fachangestellten begonnenen Auszubildenden fragte, wer sich denn als „gesund“ bezeichnen würde, meldete sich gerade mal eine Schülerin! Die WHO definiert Gesundheit als den Zustand vollkommenen körperlichen, seelischen und sozialen Wohlbefindens. Demnach fühlt sich offenbar heute auch niemand mehr gesund. Jedes nur so geringe Unwohlsein in einem der drei Bereiche wird sofort pathologisiert und lässt auf den sekundären Krankheitsgewinn in Form irgendeiner Zuwendung hoffen.

Durch Epiktet wissen wir, dass es  nicht die Dinge sind, die uns berühren, sondern die Sicht, die wir auf die Dinge haben.

Es scheint niemanden mehr zu wundern, geschweige denn zu stören (außer vielleicht die Arbeitgeber), dass Ärzte Gefälligkeitskrankschreibungen ausstellen. Warum tun das die Kollegen und Kolleginnen? Bei den vollen Wartezimmern müssten sie doch eigentlich nicht mehr auf diese Patienten angewiesen sein. Ist es der Wunsch nach Anerkennung oder sind sie wirklich auf diese Patienten angewiesen? Ist es vielleicht Bequemlichkeit oder einfach Angst vor juristischen Konsequenzen, falls man doch mal was übersieht? Wie will man als Arzt die subjektiv vorgetragenen Beschwerden verifizieren? Und müssen die Untersuchungen tatsächlich immer in der Arbeitszeit erfolgen? Kann man Operationen, vor allem kosmetische, nicht auch im Urlaub durchführen lassen? Den meisten Menschen ist wahrscheinlich gar nicht bewusst, dass sie mit diesem Verhalten allen auf der Tasche liegen, aber das Geld kommt ja bekanntlich aus dem Automaten. Auch hört man immer wieder die Meinung, wenn man schon in die Versicherung einbezahle, müsse man sich doch auch die entsprechende Gegenleistung wiederholen dürfen. So kann aber keine Solidargemeinschaft auf Dauer funktionieren.

Wer sich in einem Betrieb krank meldet, nimmt gleichzeitig in Kauf, dass die anderen für ihn mitarbeiten. In großen Betrieben mag das ja noch einfach zu kompensieren sein, in kleinen und mittelständischen Betrieben aber schon nicht mehr.
Es sind in erster Linie die niedergelassenen Kolleginnen und Kollegen, die die AU’s mit den entsprechenden Konsequenzen für das Bruttosozialprodukt ausstellen, wer stationär aufgenommen wurde, dem wollen wir mal hier nicht unterstellen, dass die Beschwerden vorgetäuscht sind, obwohl das sicher auch vorkommt.

Es sind aber auch diese Kolleginnen und Kollegen, die die Patienten hier zum Umdenken bewegen und an mehr Verantwortung appellieren können. Durch ein vorübergehendes oder auch längeres Fernbleiben vom Arbeitsplatz löst man weder Konflikte, noch Probleme. Diese lassen sich besser durch Kommunikation lösen. Streik ist ein legitimes Mittel am Arbeitsmarkt, um Forderungen durchzusetzen. In der Regel wird dieser durch Gewerkschaftsbeiträge finanziert, aber kollektive Krankmeldung als Streikmittel ist schlicht und einfach Betrug, auch wenn man es juristisch schlecht beweisen kann. Und wer die entsprechenden Bescheinigungen hierzu ausstellt, leistet Beihilfe zum Betrug. Solange wir noch in einem Rechtsstaat leben, sollte man dies im Hinterkopf behalten. Das ZDF meldete zwar, dass im Falle der TUI die Mitarbeiter von der Möglichkeit „unfit to fly“ Gebrauch machten, d.h. man fühlte sich (psychisch) nicht in der Lage zu fliegen bzw. die Gäste sicher zu transportieren, trotzdem dürfen solche Beispiele nicht Schule machen und wir Ärztinnen und Ärzte uns zu Handlangern.

Dr. med. Helga Eitzenberger-Wollring

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[1] https://de.wikipedia.org/wiki/Geschichte_der_Entgeltfortzahlung_im_Krankheitsfall_in_Deutschland

[2] http://www.arbeitgeber.de/www%5Carbeitgeber.nsf/id/DE_Krankenstand

[3] http://gesundheitsdaten.kbv.de/cms/html/17073.php

[4] http://www.wiwo.de/politik/deutschland/krankenstand-in-behoerden-kranke-beamte-kosten-steuerzahler-milliarden/11006118.html